Alexa Thelen-van den Hoek: Dezember in Den Haag

David stand am Fenster seiner kleinen Mansardenwohnung und schaute über die roten Dächer von Den Haag. Hätte er das Fenster geöffnet, um nach unten zu schauen, hätte er den vorweihnachtlichen Trubel und die vielen Lichter in den glitzernden Dekorationen wahrnehmen können – aber ihm war nicht nach Weihnachten zumute.

Wieder ein nebliger, trockener Dezembermorgen. Er mochte diese Art von Wetter nicht – zu viele traurige Erinnerungen. Die Weihnachtstage im vergangenen Jahr hatte er alleine verbracht, hatte die Einladung von seinen Freunden abgelehnt und sich in seiner einsamen Wohnung verkrochen, voll Trauer und Selbstmitleid, hatte die Leere gefüllt mit alten Spielfilmen und einer Flasche mit billigem Wein. Über ein Jahr war es jetzt her, dass Marijke gegangen war. Er war dennoch hiergeblieben, in seiner neuen Wahlheimat in den Niederlanden. Ihm hatten Kraft und Motivation gefehlt für eine weitere Veränderung.

Seine Staffelei stand links neben ihm, zum Greifen nahe, denn sein Atelier war zugleich Schlaf- und Esszimmer und bot nicht viel Platz: ein einfacher Schrank, ein schmales Bett, ein kleiner Tisch zum Arbeiten und Essen, und den Rest des Raumes füllten Malutensilien und Leinwände. Für mehr reichten seine Einnahmen nicht. Corona und die Trennung von Marijke hatten seine sozialen Kontakte und damit auch seine Malaufträge mehr oder minder zum Erliegen gebracht. Über Wasser hielt er sich, in dem er in einem Supermarkt in der Nähe früh morgens die Regale einräumte. Zum Glück war seine kleine Dachwohnung in dem prächtigen, wenn auch etwas in die Jahre gekommenen Jugendstilhaus relativ kostengünstig, da er nebenher die Pflichten eines Hausmeisters erfüllen musste.

Vier Jahre war es nun her, dass er Marijke getroffen hatte, in Düsseldorf bei der Vernissage eines gemeinsamen Freundes. Sie hatten damals beide noch studiert: sie Germanistik und Kunstgeschichte, er war seit einigen Jahren in Pharmazie eingeschrieben, hatte sich aber schon länger nicht mehr um sein Studium gekümmert, seit ihm klar geworden war, dass er malen wollte. Die Beziehung zu Marijke war tief und leidenschaftlich gewesen – hatte er zumindest gedacht. Und so war er ihr mit ihrem ersten Job nach Den Haag gefolgt: verliebt, glücklich und voll Abenteuerlust.

David dachte an den Tag, als Marijke ihn verließ. Es war ein verheißungsvoller Novembertag gewesen, neblig und trocken, und sie waren bereits morgens aufgebrochen zum Bücher- und Antikmarkt an der Lange Voorhout, Hand in Hand, scherzend, der sichtbare Atem im Staccato ihres Lachens munter vor ihnen her tanzend.

Sie waren weiter Richtung Zentrum gelaufen, auf dem von Linden gesäumten, unter ihren Füßen knirschenden Muschelsandweg. Marijke hatte plötzlich auf einen jungen Mann in grauer Mönchskutte gewiesen, der auf einer der Parkbänke saß und mit seinem Smartphone beschäftigt war. Sie fand dies amüsant. David fand es grandios, stellte sich vor, wie dieser zeitlose wie zeitgemäße Mönch auf einer Leinwand aussah, links sein schwarzes Fahrrad, an einen Abfalleimer gelehnt, das meiste Ton in Ton, grau-braun, nur unter dem bräunlich gelben Laub ein wenig grünes Gras. Er war von dieser außergewöhnlichen und doch selbstverständlich wirkenden Szene so fasziniert, dass er den Mönch ansprach, ob er ein Foto machen dürfe. Er sei Maler und würde ihn samt Umfeld und Atmosphäre gerne malen. Der Mönch hatte gelächelt, genickt und sich weiter seinem Handy gewidmet.

Danach waren sie in ein Café eingekehrt, und Marijke hatte im eröffnet, dass sie ihn verlassen und nach Groningen umziehen würde. David hatte nicht viel sagen können, war betroffen und schockiert. Anschließend ging alles sehr schnell. David hatte nicht einmal beim Umzug helfen dürfen.

Seitdem fühlte er sich zu tiefst einsam. Das Bild mit dem Mönch hatte er tatsächlich gemalt. Irgendetwas hatte er ja tun müssen. Doch es hatte ihn immer nur wehmütig gestimmt. Er hatte es daher inzwischen seiner Nachbarin im untersten Stock gegeben. Frau De Hoop war eine warmherzige alte, alleinstehende Dame, die ihn von Beginn an immer freundlich gegrüßt hatte. Irgendwann im letzten halben Jahr hatte er bemerkt, dass sie inzwischen nur noch mit Rollator unterwegs war. Und so hatte er ihr angeboten, Einkäufe für sie zu erledigen. Dies hatte sie dankbar angenommen und ihn im Gegenzug anschließend immer auf eine Tasse Tee eingeladen – einer der wenigen zwischenmenschlichen Begegnungen, für ihn, aber sicher auch für sie. Er fühlte sich stets wohl in dem gemütlichen, etwas altmodisch eingerichteten Wohnzimmer. Zu Beginn war da ein leerer, etwas hellerer Fleck über dem Sofa gewesen. Sie hatte ihm erklärte, dass dort das Lieblingsbild ihres verstorbenen Mannes gehangen hatte, sie es aber verkaufen musste. Und so hatte er eines Tages sein Bild mit dem Mönch nach unten gebracht, was sie erfreut gleich von ihm aufhängen ließ.

Heute würde er wieder für sie einkaufen gehen. Aber sie hatte ihn gebeten, ob er sie diesmal danach begleiten könne zu einem musikalischen Adventsnachmittag bei Freunden. Natürlich hatte er diesen Wunsch nicht abschlagen können, fühlte sich bei dem Gedanken, bei fremden Leuten sitzen zu müssen, jedoch relativ unwohl.

Nach einem letzten leeren Blick aus dem Fenster und einem kleinen Seufzer brach er endlich auf zu seinem Supermarkt, die Einkaufsliste hatte sie ihm schon gestern Abend gegeben. Auf dem Rückweg überlegte er kurz, ob es nicht doch irgendwie möglich sei, sich herauszureden, aber ihm fiel kein glaubwürdiger Vorwand ein. Er würde seine ihm immer wohlgesonnene Nachbarin auch ungern enttäuschen oder im Stich lassen.

Frau de Hoop öffnete bereits die Tür, bevor er die Klingel betätigen konnte. Sie hatte sich nett zurechtgemacht, violette Pailletten glitzerten an ihrem Jäckchen. Er musste feststellen, dass er immer noch in den Jeans vom frühen Morgen steckte, die er beim Einräumen der Supermarktregale getragen hatte. Dies noch zu ändern wäre jetzt zu spät. Wenigsten hatte er daran gedacht gehabt, ein Jackett überzuziehen. Frau De Hoop wollte ihren Rollator zuhause lassen, zog es vor, sich bei ihm einzuhängen. Zumindest fühlte er sich hierdurch etwas nützlicher. Er brachte nur noch schnell ihre Lebensmittel in den Kühlschrank. Während sein Blick kurz das Wohnzimmer streifte, registrierte er, dass das Bild von dem Mönch nicht mehr dort hing. Wahrscheinlich hatte sie dies auch verkaufen müssen, dachte er bei sich. Sie hatte nie von ihrer finanziellen Situation gesprochen. Er würde ein anderes für sie finden und aufhängen.

Als er aus der Küche kam, stand das Taxi schon vor der Tür. David half Frau De Hoop beim Einsteigen und legte die Blumen, die sie mitgenommen hatte, in den Kofferraum.

Nach ungefähr zehn Minuten Fahrt stoppte das Taxi vor einem großen, alleinstehenden Haus, eher einer Villa. Nun fühlte er sich noch unbehaglicher. Nur die Freude in Frau De Hoops Augen machten die Situation etwas erträglicher.

Nachdem sie eingetreten waren – Frau De Hoop wieder an seinem Arm – und sich Richtung Musikzimmer führen ließen, kam ein großer, gut gekleideter Mitfünfziger freudestrahlend auf sie zu. Er hieß sie beide herzlich willkommen und stellte sich vor – doch das bekam David nicht mehr mit, zu sehr irritierte ihn, was er gerade entdeckt hatte: im Musikzimmer stand auf einer Staffelei sein Bild von dem Mönch mit Handy auf der Parkbank. Was hatte dies zu bedeuten? Er war verwirrt, war froh, dass er sich an Frau de Hoop festhalten konnte. Als sie das Musikzimmer betraten, saßen dort ca. 30 Menschen, alle nach vorne schauend, wo links von seinem Bild ein Trio von Streichern saß und offenbar auf seinen Einsatz wartete. Der Hausherr drehte sich zu der Menge: „und hier haben wir den Künstler dieses interessanten Werkes, David Lohmann!“ und wies in seine Richtung. Er war verwirrt, verlegen, schaffte es gerade noch, eine Verbeugung andeutend, ein kurzes „Guten Abend“ über seine Lippen zu bringen, und ließ sich von Frau De Hoop zu den noch freien Plätzen in der ersten Reihe dirigieren. „Unser Gastgeber möchte unbedingt dein Bild kaufen. Ich denke, du hast einen Mentor gefunden.“, flüsterte sie ihm unauffällig zu. David war immer noch sprachlos, doch die Musiker, die in diesem Moment zu spielen begannen, gaben ihm etwas Zeit, sich zu sortieren. Irgendwie fühlte sich all dies sonderbar an, fast ein wenig an wie weihnachtliche Vorfreude. Und zum ersten Mal seit langem erschien auf seinem Gesicht ein beinahe kindlich anmutendes Lächeln…

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