Brigitte Thelen: Weihnachten 1950

Der Krieg war nun schon über fünf Jahre vorbei. Trotz der Währungsreform vor zwei Jahren war das Leben immer noch von Entbehrungen und Armut geprägt.

Uns Kindern – ich war gerade 6 Jahre alt – war das gar nicht so bewusst, Hunger litt bei uns niemand mehr. Es gab zwar meistens nur einfache Gerichte mit vielen Kartoffeln und wenig Fleisch, aber wir waren satt und zufrieden.

Ich fühlte mich wohl und geborgen in unserer großen Familie.

Mit unseren Eltern, und zu Anfang sieben Mädchen und einem Jungen, lebten wir in einer beengten Wohnung, die man uns nach dem Krieg zugeteilt hatte, da unser Haus durch Granatbeschuss unbewohnbar geworden war und wegen Straßenbauplänen nicht mehr aufgebaut werden durfte.

Wir hatten eine kleine Küche, ein Wohnzimmer und zwei Schlafzimmer. Der Abort stand draußen, ca. zehn Meter vom Haus entfernt in einem unbeleuchteten Hof, der bei Dunkelheit unheimlich und für jedermann von der Straße zugänglich war.

Unsere Wohnung lag im Erdgeschoss des ehemaligen Lehrerhauses – sie wurde während der NS-Zeit als Kindergarten und NSDAP-Büro genutzt – direkt neben, sogar halbwegs vor der Schule. Die Schultür, die nie abgesperrt war, lag genau gegenüber unserem Küchenfenster, nur getrennt durch den schmalen, offenen Durchgangsweg zum Hof.

Oft mussten unsere Eltern feststellen, dass im Treppenhaus der Schule Hausierer, Landstreicher und manchmal versprengte Soldaten nächtigten, weil es dort trocken, wind- und wettergeschützt und ein wenig warm war. Es verfügte über eine funselige Lampe, und gegenüber an unserer Küchen-Außenwand befand sich ein Wasserhahn. Um uns Kinder nicht zu ängstigen, wurden uns diese verstohlenen Bewohner stets verheimlicht.

Unser Dorf hatte sich gegenüber der Vorkriegszeit stark verändert. Kriegsruinen, beschädigte Häuserfronten und Bombentrichter waren noch überall zusehen. Und es gab kaum eine Familie, die nicht mindestens einen Kriegstoten oder Vermissten zu beklagen hatte.

Vor allem herrschte arge Wohnungsnot. Viele Ostflüchtlinge waren bei uns gestrandet, und immer kamen noch welche dazu. Es gab in keinem Haus ein leerstehendes Zimmer. Und wo es nur irgendwie möglich war, mussten Familien zusammenrücken, damit Flüchtlinge, die man sich nicht aussuchen durfte, zwangseinquartiert werden konnten.

Doch uns Kinder berührte das alles wenig, wir waren trotz Beengung und vieler Entbehrungen lebensfroh.

Kurz vor dem 1. Advent, durfte ich mit meinen großen Schwestern in den Wald gehen, um Tannenzweige zu schneiden und Kiefernzapfen zu suchen. Es herrschte dann stets ein fröhliches Treiben im Tannenwäldchen, Kindergeschrei und Ermahnungsrufe von Erwachsenen waren überall zu hören.

Mit Staunen konnten wir später daheim zusehen, wie unsere Mutter geschickt ein rundes Drahtgestell erst mit Stroh umwickelte und dann mit den Tannenzweigen einen Adventskranz band. Von unten steckte sie vier lange Nägel durch, auf die sie die Kerzen setzte. Sie verzierte den Kranz mit rotem Band und befestigte mit dünnem Draht ein paar Kiefernzapfen. Das duftende Prunkstück wurde dann mitten auf den Wohnzimmertisch gestellt.

Meine Patin hatte mir wie immer einen bunten, glitzernden Advents-Kalender aus Pappe geschenkt, auf dem 24 nummerierte Türchen waren, für jeden Tag eines, bis zum Heiligen Abend. Ungeduldig hätte ich am liebsten alle sofort aufgemacht, aber meine Mutter konnte mich überzeugen, dass mir dann die tägliche Überraschung fehlen würde. So war ich schon abends gespannt, welche Herrlichkeit ich wohl am Morgen hinter dem nächsten Türchen zu sehen bekäme.

Jeden Dienstag- und Freitagabend fand eine feierliche Advents-Andacht statt, auf die wir uns immer freuten. Noch heute kann ich die vorweihnachtliche Stimmung erspüren, sehe meinen Atem in der ungeheizten Kirche wie Weihrauch aufsteigen, erinnere mich an die ergreifenden Texte und vertrauten Lieder.

Wie jedes Jahr beäugten wir täglich unseren Barbarazweig in der Vase, verfolgten erwartungsvoll jeden kleinen Fortschritt, wenn sich Knospen bildeten. Inständig hofften wir, dass er an Weihnachten blühen würde, das dann der Familie Glück und Frieden verheißen sollte fürs neue Jahr.

Der Nikolaustag – da St. Nikolaus unter anderem der Schutzpatron der Schiffer ist – galt in unserer Familie als Hochfest. Unsere Großväter mütterlicher- und väterlicherseits waren Binnenschiffer gewesen, und unser Vater arbeitete zeitlebens beim Wasserbauamt.

Die ganze Verwandtschaft, die allesamt keine kleinen Kinder mehr hatte, versammelte sich jedes Jahr bei uns, um dem Schauspiel beizuwohnen, wenn der Nikolaus kam.

Zu langsam zogen sich für mich die Adventswochen dahin, obwohl ich die gemütlichen Abende bei Kerzenschein und dem Singen von Adventsliedern genoss.

Eine Kerze wurde nach der anderen am Adventskranz angezündet, und das Fest der Feste nahte. Auch in den Kirchenliedern kam ab Gaudete, dem 3. Adventssonntag, die Vorfreude auf Christtag schon besonders zum Ausdruck.

Am Vorabend des Heiligen Abends war immer die letzte Kirchenchorprobe vor Weihnachten. Es war damals üblich, dass danach der ganze Chor, zu dem all meine großen Schwestern gehörten, in den Tannenwald ging, in dem die jungen Chormänner für die Familien der Chormitglieder Christbäume schlugen.

Wenn die ausgelassene Gesellschaft dann spät abends mit einem Baum bei uns ankam, wurden wir Kinder wach. Am liebsten wären wir aufgestanden, um die lustigen Leutchen zu begrüßen und den Baum zu bestaunen, aber unsere Eltern ließen das leider nie zu.

Es fiel uns dann sehr schwer, in der Nacht vor dem Heiligen Abend nochmal einschlafen zu können.

Schon früh am 24. Dezember herrschte eine aufgeregte Betriebsamkeit im ganzen Haus, die Festvorbereitungen waren voll im Gange. Türen blieben verschlossen, dahinter hatte es geheimnisvoll geraschelt.

Unser Vater richtete den Baum, stellte ihn in den Ständer, bohrte hier und da kleine Löcher an leeren Stellen, in die er dann Tannenästchen von der Baumrückseite steckte, und schaffte Platz dafür im Wohnzimmer.

Am frühen Nachmittag wurde, wie sonst nur samstags, die Zink-Waschbütte in die Küche gestellt, mit heißem Wasser befüllt, und nacheinander wurden wir drei Jüngsten darin gebadet. Danach durften wir im Wohnzimmer ums Radio sitzen und Geschichten der WELLENREITER – einer Kinder-Radiosendung – lauschen und Weihnachtslieder hören.

Wir wurden nach und nach von einer unbeschreiblichen Glückseligkeit erfasst.

Um sechs Uhr abends gingen wir alle eingemummt vors Haus, um unseren Kirchenglocken zu lauschen, die feierlich fünfzehn Minuten lang die Weihnacht einläuteten. Auch das Geläute von den Nachbarorten Igel, Konz und Wasserbillig war zu vernehmen. Die Freude über Jesu Geburtstag und das damit entstandene Gemeinschaftsgefühl hatte uns alle immer sehr berührt. Als festliches Heiligabendessen gab es dann im Wohnzimmer „Rohes Gehacktes“ mit frischen Brötchen und Viez (Apfelwein), für uns Kinder ein besonderer Schmaus.

Freudig erregt sangen wir die im Radio gespielten Weihnachtslieder mit, währenddessen die Kerzenstummel vom Adventskranz abbrannten.

Die Bescherung fand bei uns immer erst am 1. Weihnachtsfeiertag nach der Christmette statt, die um sechs Uhr morgens begann.

Als wir später zusammen durch den finsteren Hof zum Abort gingen, bemerkten wir, dass im Treppenhaus der Schule Licht brannte, dieses Licht war uns nicht geheuer.

Nachdem wir wieder wohlbehütet im warmen, hellen Wohnzimmer saßen, schlich unsere Mutter unbemerkt hinaus, um dem Licht auf den Grund zu gehen. Im Treppenhaus der Schule fand sie einen Mann mit seiner Frau, die hochschwanger war. Die beiden kauerten ängstlich und zitternd auf den kalten Bodenfliesen unter der Treppe. Sie gaben sich als Flüchtlinge aus, die von weit herkämen, auf der Durchreise seien und hier nur Schutz suchten für die Nacht.

Unsere Mutter erkannte ihre Not. Diese heimatlosen, erschöpften Leute taten ihr furchtbar leid, besonders die schwangere Frau, zumal sie ausgerechnet in der Heiligen Nacht an so einem unwirtlichen, kalten Ort Zuflucht suchen mussten. Sie dachte daran, dass sie selbst viele Schwangerschaften in schlimmen Zeiten hinter sich hatte bringen müssen, jedoch wenigstens geborgen in ihrem Zuhause.

So brachte sie ihnen ein karges Mahl und heißen Viez zum Aufwärmen. Zum Lagern holte sie aus dem Schuppen ein paar Strohgarben, die wir immer als Streu für unsere zwei Schweine parat hatten. Als Zudecke konnte sie ihnen nur unsere Bügeldecke leihen, da wir selbst in dieser entbehrungsreichen Zeit über keine anderen ungenutzten Decken mehr verfügten. Alles irgendwie Verzichtbare war nach dem Krieg beim „Hamstern“ gegen Lebensmittel eingetauscht worden.

Die Flüchtlinge gingen uns allen in den restlichen Stunden des Heiligen Abends nicht mehr aus den Köpfen. Unsere Mutter wollte vor dem Zubettgehen noch mal nach ihnen schauen und plante, am Weihnachtsmorgen nach der Mette Pastor und Bürgermeister zu fragen, wie man ihnen helfen könnte.

Als wir Kinder längst schlaflos in den Betten lagen und lauschten, ob sich im Wohnzimmer etwas täte, das die Ankunft des Christkindes verraten hätte – vielleicht das Klirren einer herunterfallenden, zerbrechenden Glas-Christbaumkugel oder das zarte Klingeln eines Glöckchens – kam unsere Mutter ins Schlafzimmer und erzählte uns, dass ein verfrühtes „Christkind“ angekommen sei; ein kleiner Junge sei im Schulflur geboren worden.

Wir staunten und freuten uns, dieses Kind, das wir als eine Art Christkindchen wahrnahmen, morgens sehen zu können.

Doch als wir aufstanden und noch vor der Mette neugierig rüber in das Treppenhaus der Schule rannten, war es leer.

Das neugeborene Kindchen war mit seinen Eltern verschwunden. . . .

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